Oktober '91
Ein ungewohnter Hauch von Feiertag liegt auf der Stadt.Kein
Stau, kein Lärm, die Schienen der Strassenbahn
glaenzen mattn der Vormittagssonne.
Noch ein Spaetsommeridyll!
Die Laeden sind geschlossen,
all die Fahnen haengen still.
Seit vierundzwanzig Jahr'n ist Mehmet in der Giesserei.Seit
vierundzwanzig Jahr'n kommt er hier jeden Tag vorbei.Heut
hat er keine Eile. Er kann im Voruebergehn imTV-Shop
im Schaufenster die Feierstunde sehn:Dreiduzendfach
der Praesident von einer Monitorwand,
Und es geht um Recht und Freiheit - fuer jeden in diesem
Land.Mehr als die Haelfte seines Lebens arbeitet er
hier.Zwei Toechter und ein Sohn sind aufgewachsen im
Revier.Seine Kollegen moegen ihn,
still und gewissenhaft,Drei Zimmer und ein Ford Escort,
ja, Mehmet hat'ls geschafft,
Mit Ueberstunden auch mal ein Besuch in der Tuerkei.Ein
Angetrunk'ner streift ihn,
eine kleine Rempelei,Und lallend dreht der Mann sich
um, bierduenstend und verschwitzt,
Und Mehmet sieht die Klinge nicht,
die hinter ihm aufblitzt,Und grundlos,
wie von Sinnen, sticht der Fremde auf ihn ein,
Und das Fernsehbild wird dunkelrot und er faellt wie
ein Stein.Und die Leute auf der Strasse?
Alle haben sie's gesehn,All die unbescholt'nen Muerger,
die im Halbkreis um ihn stehn.
Keiner hat ihn beigestanden,
keinem kommt es in den Sinn,
Ihm zu helfen, ihm zt troesten,
keiner kniet sich zu ihm hin.
Und im Fernsehn dingen sie die Strophe von der Einigkeit.Und
der Notarztwagen kommt nach einer halbe Ewigkeit.
Und sie reinigen das Pflaster,
dort, wo er noch eben lag.
Und eigentlich war heut fuer alle doch ein guter Tag
-Doch seit den Vier-Uhr-Nachrichten ist der Tag nicht
mehr gut,Da sind noch nur Schmerz und Trauer, und mir ist zum Heul'nzumut'.